Das entschlossene Stubenmädchen

Das Detail

Das entschlossene Stubenmädchen

Persönlichkeit ist ein Geheimnis, manchmal ein öffentliches. Den ganzen Varietéabend lang
habe ich nur auf das Stubenmädchen gesehen. Schwarzs Kleid weißes Schürzchen, dicke Waden. Sie ist ganz im Hintergrund, doch unübersehbar. Mit einem Staubwedel aus bunten Federn streichelt sie das Hotellhallengeländer, als wären es die Arme ihres Liebhabers. Kokett voller Hingabe, mit dem Selbstbewußtsein der Herrin. Beiläufiger, aber entschlossener Triumph über sämtliche Demütigungen, die dienstleistendem Personal jemals widerfahren sein mögen, zumal auf erotischem Gebiet.
Manchmal langweilen sich Angestellte im Hotelalltag, und aus Langeweile entsteht rasch Leidenschaft, auch auf der Bühne. Irgendwann zieht das Stubenmädchen seine Lackschuhe mit den kleinen klappernden Absätzen aus, trippelt ein bißchen zwischen Liftboy und Butler hin und her, um schließlich zu einer grotesken Ménage a trois anzusetzen, einer doppeldeutigen Akrobatik. Da wird der Page zum Beuteltier, und die nunmehr sichtbaren volominösen Baumwollspitzenschlüpfer seiner turnenden Kollegin erinnern an die Softpornopostkarten der zwanziger Jahre. Daß komik und Erotik ein Paar sein können – die Nummer zeigt es uns.
Das Mädchen mit der Schürze ist vielfältig. Die Jonglage von Butler und Liftboy begleitet sie artig auf der Querflöte, mit einem Stück von Bach. Wo es was zu steppen gibt, steppt sie und jongliert sogar selbst mit tausend und einem Teller beim „Großen Essen der dicken Männer“,dem Höhepunkt der ansonsten noch spröden Show des Hinterhofvarietés „Chamäleon“.
Dann die Verwandlung. Wie aus dem Entlein der Schwan, wird aus dem Stubenmädchen ein Gnom. Im picassobunten Trikot, mit wüsten hochstehenden Haarstränen aus Gummi,haust er heimlich im Hotel, ohne Miete zu zahlen, unerwünscht. Er ist schön schlau und kindlich. Tanzt zu Mussorgskis „Bilder einer Ausstellung“,leckt sich begehrlich die Lippen, windet sich vor einem imaginären Feind. Der Gnom weiß, seine Rettung ist oben. Er muß weg von der Erde, muß aufs Trapez. Dort lebt er seinen Triumph in übermütigen Bewegungen aus, in wollüstigen Körperwellen, waghalsigen Verrenkungen. Es ist der Sieg des Kindlichen über das Erwachsene, der Leichtigkeit über die Schwere, der Sieg der wachen Komik über den dumpfen Ernst. Da weiß man doch, warum man ins Varieté geht in diesen Zeiten.
Ich treffe Caroline Schroeck im Café Adler, direkt am ehemaligen Checkpoint Charlie. Die sechsundzwanzigjährige Künstlertochter aus Düsseldorf bekennt sich privat mehr zum Gnom als zum Stubenmädchen. Ihr Pullover ist harlekinesk bunt wie dessen Kostüm, die dunkelblonden, dicken Haare stehen zu Berge wie seine Gummisträhnen. Gesicht und Gestalt zeigen jene kindliche Entschlossenheit, die alles, was die Artistin auf der Bühne tut, so auffällig persönlich macht, daß man auf sie sieht, auch wo sie nur im Hintergrund sein soll. Nach einer Tanzausbildung ging Caroline Schroeck drei Monate als Glitzergirl mit Frack und Zylinder zu Cirkus Krone. Es war ihr zu ernst, und sie wurde Akrobatin. Das kam durch Gilles, ihren Freund, der ist bei Krone Kraftfahrer gewesen, doch eigentlich ist er Jongleur. Gilles hat mir sehr geholfen, sagt Caroline. Nun treten beide im „Chamäleon“ auf, er der Butler, sie das Stubenmädchen.
Der Gnom trinkt seinen Kakao aus und eilt – wie anders als entschlossen – zum Rosenthaler Platz, in den Jugendstilsaal des einstigen Kinos „Imperial“, wo die Chamäleon-Crew probt, damit die ganze Show so glänzt wie das Detail.

Jutta Voigt Wochenpost NO 45